Beitrag vom 10.06.2025

Digitale Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben


Teaser

Gastbeitrag von Tower Fernassistenz

Tower Fernassistenz unterstützt blinde und sehbehinderte Menschen und Menschen mit Lernschwierigkeiten, baut Barrieren ab und hilft, den Alltag selbstbestimmt zu gestalten.

 

Wie den Weg finden, wenn plötzlich Baustellen den gewohnten Weg versperren und die eingeübten Orientierungspunkte wegfallen? Wie versteckte Hauseingänge finden? Was tun, wenn Webseiten nicht aufgerufen werden können, weil Captchas beantwortet werden müssen oder sich ungefragt Pop-up Fenster öffnen? Was tun, wenn der Kaffee plötzlich nicht mehr schmeckt, weil Gäste die Einstellung des Automaten verändert haben? Wer unterstützt, wenn komplizierte Briefe nicht verstanden werden können?

Das Team von Tower Fernassistenz arbeitet an einer App, mit deren Hilfe sich „Fernassistent*innen“ auf die Smartphones oder Tablets der Kund*innen aufschalten können und durch die Smartphone-Kamera einen Blick auf die Situation werfen und assistieren können. Ähnlich wie Fluglots*innen an den Flugverkehrskontrolltürmen auf Flughäfen, will das Team aus anderer Perspektive dabei unterstützen, sicher ans Ziel zu kommen.

Wenn versteckte Hauseingänge gesucht werden, kann sich der Assistent oder die Assistentin so durch die Mobilfunkkamera der Kund*innen ein Bild von der Umgebung machen, um ihnen den Weg zu beschreiben. Auch ein Fernzugriff kann ermöglicht werden: Dann steuern die Mitarbeitenden des Unternehmens das genutzte Gerät und können so z.B. Captchas ausschalten oder gemeinsam mit den Kunden Dateien sortieren oder Pop-up Fenster schließen. Wenn der Kundenservice bei einem defekten Herd das Foto der Artikelnummer benötigt, kann so über das Smartphone, auf dem die App genutzt wird das gewünschte Foto gemacht und versendet werden.

Die „Fernassistent*innen“ sind reale Menschen, deren Unterstützung in Echtzeit angefordert werden kann. Aktuell ist jeder im neunköpfigen Team auch entsprechend ausgebildet. Für die Schulung ist Katharina Rippl zuständig. Die Ausbildung ist ein dynamischer und praxisnaher Prozess, der kontinuierlich an die Bedarfe der Nutzer*innen angepasst wird. Die Schulung basiert auf einem modularen Aufbau, der essenzielle Kompetenzen in den Bereichen Mindset, Kommunikation, technische Fertigkeiten und praktische Anwendung vermittelt.

Zu Beginn der Ausbildung steht das Ankommen, bei dem die Teilnehmenden sich mit den Zielen, Strukturen und Werten des Programms vertraut machen. In dieser Phase lernen sie das Team sowie die Grundlagen der Assistenzarbeit kennen.

Der nächste Schritt ist In Touch sein, wo ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse und Herausforderungen der Nutzer*innen entwickelt wird. Hierbei geht es um Sensibilisierung für Barrieren, Reflexion eigener Perspektiven und das Erlernen eines respektvollen und unterstützenden Umgangs.

Im Modul Selbsterfahrung beschäftigen sich die angehenden Assistenzkräfte mit ihrer eigenen Rolle, Wahrnehmung und Wirkung. Durch Rollenspiele und Reflexionsübungen gewinnen sie Einblick in ihre Stärken, Grenzen und die Bedeutung professioneller Abgrenzung.

Das Modul Kommunikation legt den Grundstein für eine klare, empathische und zielführende Interaktion mit den Kund*innen. Der Leitgedanke „Fragen statt vermuten“ steht hierbei im Mittelpunkt. Die Assistenzkräfte erlernen Fragetechniken, aktives Zuhören und die Fähigkeit, komplexe Situationen verständlich zu beschreiben.

Im Mindset-Modul geht es um die Haltung, mit der die Assistenzkräfte den Nutzenden begegnen. Es wird vermittelt, wie wichtig es ist, auf Augenhöhe zu agieren, Selbstbestimmung zu respektieren und die Nutzer*innen in ihren Entscheidungen zu stärken. Zudem wird an der professionellen Abgrenzung gearbeitet, um langfristig eine gesunde Assistenzpraxis sicherzustellen.

Die Schulung umfasst ebenfalls das Erlernen und Anwenden von Tools, die für die Assistenzarbeit essenziell sind. Dazu gehören der sichere Umgang mit Kamera- und Lichtsteuerung, die Nutzung von Karten- und Navigationsanwendungen sowie technische Grundlagen zur Fernunterstützung.

Den Abschluss der Ausbildung bilden Praxisübungen und Simulationen, in denen die Teilnehmenden ihr erworbenes Wissen in realitätsnahen Szenarien anwenden. Durch Übungsanrufe und praxisnahe Fallstudien werden sie optimal auf die Herausforderungen der Assistenzarbeit vorbereitet. Feedback und Reflexion spielen dabei eine zentrale Rolle, um kontinuierlich die Qualität der Assistenz zu verbessern.

Die Ausbildung ist ein iterativer Prozess, der auf kontinuierlichem Lernen basiert. Durch regelmäßige Nachschulungen und Anpassungen des Konzepts wird sichergestellt, dass die Fernassistent*innen stets bestmöglich auf alle Anforderungen vorbereitet sind.

Ein positives Menschenbild und hohe digitale Kompetenz sind Rippl besonders wichtig: Die Assistenzkräfte sind angehalten, nur an den Stellen zu helfen, an denen sie gebraucht werden: Der Nutzende gibt vor, wie die Unterstützung aussehen soll und was er braucht. „Man muss entscheidungsfreudig sein, denn als Assistent*in will man die Aufgabe lösen. Wichtig ist, die Kund*innen immer mitzunehmen und jeden Schritt abzusprechen“, erklärt Rippl das Vorgehen.

Häufig ist das Team mit technischen Herausforderungen konfrontiert: Wie kann ein nicht barrierefreies Dokument gelesen werden? Wieso schaltet die Waschmaschine auf Störung? Warum funktioniert ein Online-Zugang nicht? In diesen Fällen ist eine hohe digitale Kompetenz nötig, Bedienungsanleitungen müssen heruntergeladen und Fehlerquellen gefunden werden. Dabei sind oft mehrere Tools gleichzeitig zu bedienen und die Assistenzkräfte müssen wissen, wie die von der Zielgruppe genutzten Programme funktionieren. 

Aktuell wird die Entwicklungsphase von der Stiftung „Aktion Mensch“ gefördert. Bis Anfang 2026 ist das Angebot deshalb komplett kostenlos. „In dieser Phase ist es für uns besonders wichtig, möglichst viele unterschiedliche Testende zu gewinnen“, erklärt Rippl. „Denn jetzt werden die Services entwickelt, die gebraucht werden“. Für die Entwicklung ist es deshalb wichtig, viele unterschiedliche Anforderungen kennenzulernen. 

Auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder für Senior*innen, die Schwierigkeiten haben, sich in Stresssituationen zu orientieren, kann das Angebot interessant sein. Für Personen, dich sich in angespannter Situation befinden, weil sie z.B. mit der Bahn unterwegs sind und sich Gleisänderungen ergeben, kann es beruhigend sein, die App zu nutzen.

Mit einem Team von Freiwilligen und Menschen des PIKSL Labors wurde eine passende Förderaktion von der Aktion Mensch Stiftung „Inklusion durch Digitalisierung“ gefunden und dann folgten viele Anträge und Evaluationen, bis die Förderung genehmigt wurde. Im Februar 2024 konnte mit einem kleinen Team in die Modelprojektphase gestartet werden: Katharina verantwortet die Ausbildung und Anleitung der Fernassistent*innen, René ist Entwicklungsleiter, Magda, Simon und Miriam arbeiten im Community Management, JP ist unser outgesourcter Entwickler, Julian der erste Fernassistent Deutschlands und Kai hat die Leitung inne.

Auf der „Sight City“, der Hilfsmittelmesse für Blinde und Sehbehinderte im Mai 2025 möchte das Team seine App Besucher*innen anbieten, die damit rund um die Messe bei der Anreise, Abreise, im Hotel und beim Frühstück Unterstützung bekommen können. „Unsere Fernassistent*innen können aus dem Science Park oder von zuhause aus arbeiten. Wir suchen weiterhin Menschen, die sich als Fernassistent*in ausbilden lassen möchten und uns unterstützen,“ erklärt Rippl. 
Wer Fernassistenz ausprobieren möchte, kann sich einfach kurz unter info@tower-assist.de melden.

Fernassistenz kann man über die App immer von dienstags bis donnerstags zwischen 12-16 Uhr erhalten.